Interview mit Ursula Kussyk vom Verein Notruf

Seit dem Auftauchen belastenden Videomaterials des amtierenden Präsidenten ader USA, wird sexualisierter Gewalt an Frauen und Mädchen in den sozialen Medien wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Unter dem #notokay beispielsweise, erzählen Frauen und Mädchen von ihren Erfahrungen.  Aber welche Handlungen beinhaltet sexualisierte Gewalt eigentlich?

Fr. Kussyk: Sexuelle Gewalt kann alles Mögliche sein: anzügliche Blicke, Gesten, Bilder in der Öffentlichkeit oder im Internet, verbale Belästigungen, körperliche Übergriffe, bis hin zu Vergewaltigungen.

Man liest sowohl von „sexueller“ als auch von „sexualisierter“ Gewalt. Können Sie in einfachen Worten erklären, was wir unter „sexualisierter Gewalt“ verstehen können?

Fr. Kussyk: „Sexuelle Gewalt“ beschreibt den körperlichen Eingriff, den Eingriff in die eigene Sexualität. „Sexualisierte Gewalt“ verdeutlicht, dass die Gewalt ein bewusster Akt ist und nicht triebbedingt ist. Dass sexuelle Gewalt ein Mittel ist und nicht Teil der Sexualität.

2015 ließ der Nationalratsabgeordnete Dr. Marcus Franz mit seiner Meinung zum sogenannten „Pograpschparagraphen“ aufhorchen. Auf Twitter schrieb er: „Ob der Popsch hält, was der Blick verspricht. Das erfahren zu wollen wird nun bestraft.“ Und: „Pograpschen kann übrigens zur Hochzeit führen. So war’s zb bei mir.“ Immer wieder hört man den Vorwurf, dass die Frau/das Mädchen „selbst schuld“ an z.B. einer Vergewaltigung sei und sie das „selbst gewollt habe“. Was hat es mit diesen Mythen der sexuellen Gewalt an Frauen und Mädchen auf sich?

Fr. Kussyk: Seit jeher gibt es Mythen, die sexuelle/sexualisierte Gewalt gegen Frauen rechtfertigen und Geschlechterrollen perpetuieren und verfestigen – sowohl bei Männern, als auch bei Frauen und auch durch beide aufrechterhalten werden. Nach wie vor scheint es eine Spaltung zwischen „guter“ und „böser“ Frau zu geben – der „Hure“ und der „Jungfrau“. Wir konstruieren uns selbst immer durch die Abgrenzung zu „Anderen“.

Häufig steht auch die Kleidung der Frau/des Mädchens in solchen Fällen zur Diskussion.

Fr. Kussyk: Ja, die Kleidung ist oft ein Thema. Wobei unsere Klientinnen weitestgehend in Hose und T-shirt gekleidet waren. Wenn die Kleidung tatsächlich eine Rolle spielen würde, müsste es ja in Saunen und Thermen fürchterlich zugehen. (lacht)

Wenn im Alltag von sexuellen Handlungen und allem was dazu gehört, gesprochen wird, so werden dafür meist relativ derbe und sexistisch konnotierte Ausdrücke verwendet. Ist diese etablierte Sprache Teil des Problems?

Fr. Kussyk: Ich denke schon, dass es nach wie vor, obwohl wir in einer Gesellschaft leben, die sehr sexualisiert ist, problematisch ist Sexualität in Alltagsgespräche einfließen zu lassen und über tatsächlich erlebte Sexualität zu sprechen. Entweder es wird gescherzt, derb darüber gesprochen oder eine Person heruntergemacht und gekränkt.

Sexuelle Belästigung ist leider etwas sehr Alltägliches. Laut einer Studie des ÖIF haben von 1292 Befragten Frauen (Alter 16-60) 74,2% bereits sexuelle Belästigung erlebt. Studien zeigen aber auch, dass sich Frauen nur selten dagegen zur Wehr setzen. Wie kommt das?

Fr. Kussyk: Sich zur Wehr zu setzen ist gar nicht so einfach – weder für Männer, noch für Frauen. Man darf nie vergessen, dass die Aktion von derjenigen Person ausgeht, die übergriffig ist. Und das „Opfer“ muss sich immer erst zurechtfinden in der Situation und realisieren, was gerade passiert. Im ersten Moment, denkt man vermutlich an ein Missverständnis und kann gar nicht glauben, dass das jetzt tatsächlich passiert. Wir sind nicht vorbereitet auf Übergriffe in unserem Alltagsleben.

Gibt es eine Möglichkeit sich auf solche Situationen psychisch vorzubereiten?

Fr. Kussyk: Reden, reden, reden! Sich mit Personen, denen man vertraut, austauschen, und Situationen eventuell auch nachspielen und darüber reflektieren. Natürlich ist das in Fällen von schwerer sexueller Gewalt nicht möglich.

Inwiefern kann man sich psychisch auf Situationen sexueller Belästigung (etwa in Bewerbungsgesprächen) vorbereiten? Oder wäre es der falsche Weg sich demnach der stetigen „Furcht“ auszusetzen, jeden Moment in die Situation einer sexuellen Belästigung zu geraten? Wie denken Sie darüber?

Fr. Kussyk: Das ständig im Hinterkopf zu haben wäre sehr anstrengend und auch ungerecht. Auch Frauen haben das Recht, sorglos durch die Straßen zu gehen und nicht ständig in „Kampfbereitschaft“ zu sein. Man muss auch aufpassen, dass man an Frauen nicht solche Ansprüche stellt, denn sonst könnte das wiederum zu Schuldzuweisungen führen, wie: „Hättest du doch einen Selbstverteidigungskurs gemacht!“.

Was kann Frau/Mädchen tun, wenn sie von sexualisierter und/oder schwerer sexueller Gewalt betroffen ist?

Fr. Kussyk: Gut wäre es, wenn man sich Menschen in seinem Umfeld anvertrauen kann, die nicht mit Schuldvorwürfen reagieren oder Überagieren. Solche Erlebnisse bedeuten für die Betroffene immer einen Kontrollverlust und die Unterstützer*innen sollten versuchen, der Betroffenen nicht wieder die Kontrolle wegzunehmen und sehr wütend zu reagieren. Die Betroffene kann sich auch an Einrichtungen wie den Verein Notruf wenden und sich dort über die nächsten Schritte beraten lassen. Wichtig ist es auch der Betroffenen zu vermitteln, dass sie nicht alles erzählen muss, sondern Teile des Erlebnisses für sich behalten kann. Für die Betroffene ist es ein bedeutender Schritt anzuerkennen, dass ihr etwas Schlimmes passiert ist, sie aber nicht dafür verantwortlich ist. Anzuerkennen, dass dieses Erlebnis ein Teil von mir ist, aber, dass das nicht ich als Ganzes bin.

Wie hilft der Verein Notruf?

Fr. Kussyk: Der Verein bietet psychosoziale Beratung, Prozessbegleitung und im Vorfeld natürlich auch Beratung, ob eine Anzeige überhaupt Sinn macht.

Gibt es denn Situationen, in denen eine Anzeige keinen Sinn macht?

Fr. Kussyk: Das ist kein objektiver Wert, das muss jede Betroffene für sich selbst entscheiden. Wenn sich die Betroffene erwartet, dass der Täter Einsicht hat, sein Verhalten ändert und vom Staat bestraft wird, muss man ihr leider sagen, dass dies höchstwahrscheinlich nicht so sein wird. Wenn das ihr Anliegen ist, dann muss sie sich überlegen ob es Sinn macht Anzeige zu erstatten, denn die Prozedur ist wirklich sehr belastend.

Reden wir hier von Vergewaltigung?

Fr. Kussyk: Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung, sexuelle Belästigung – alles was strafrechtlich relevant ist.

Warum ist die Verurteilungsquote so gering?

Fr. Kussyk: Die Rechtssphäre ist natürlich keine Parallelgesellschaft. Sachbeweise gibt es oft nicht in dem Ausmaß, wie man sich das vorstellt. Spermaspuren sind beispielsweise kein Beweis für sexuelle Gewalt, sondern für Geschlechtsverkehr. Auch kleine Verletzungen oder Hämatome können vom Gericht als Spuren von wildem, leidenschaftlichem Sex oder bestimmten sexuellen Praktiken interpretiert werden. Es gibt auch viele Fälle, in denen es die zusätzliche körperliche Gewalt gar nicht braucht, wo der Überraschungsmoment reicht. Oft kann das „sich wehren“ auch eine ganz andere Form haben, als wir es uns vielleicht vorstellen. Zum Beispiel kann versucht werden, den Täter zu besänftigen, ein Gespräch mit ihm zu führen, auszuweichen oder zu flüchten.

Was die „richtige Reaktion“ in so einem Fall ist kann man also nicht pauschal sagen?

Fr. Kussyk: Situationsangemessen ist die „richtige Reaktion“ würde ich sagen. Was sich die Frau selbst zutraut. Dem Mann in die „Eier“ zu treten, das ist ja gar nicht so einfach. Wie mache ich das? Mit dem linken Fuß, oder doch dem rechten? Den Angreifer zu besänftigen und dergleichen, wird meist nicht als „sich wehren“ anerkannt. Sich „zu früh“ körperlich zu wehren, kann allerdings auch problematisch sein und wiederum zu einer Anzeige von Seiten des Angreifers führen. Es stellt sich die Frage ab welchem Zeitpunkt man sich mit welcher Heftigkeit wehren soll.

Welche Hindernisse begegnen Ihnen, wenn Sie Betroffenen zu helfen versuchen? z.B. Scham der Betroffenen, soziale Schicht, Alter etc.

Fr. Kussyk: Das Bewusstsein in der Bevölkerung, dass es Frauenberatungseinrichtungen gibt, ist sehr gering. Laut einer europäischen Studie, wissen nur 5% der österreichischen Bevölkerung, dass es den Verein Notruf und andere Frauenberatungseinrichtungen gibt. Die Inanspruchnahme eines Beratungsangebots setzt natürlich auch voraus, dass die Betroffene sich eingesteht, dass ihr Unrecht wiederfahren ist, und sie sich beraten lässt. Ein großes Problem ist wirklich die Härte der Betroffenen zu sich selbst. Ein großer Teil der Beratung ist dann auch, für Verständnis für die eigene Person zu werben.

Was können konkrete Folgen sexualisierter Gewalt sein?

Fr. Kussyk: Das kommt ganz darauf an, z.B. wie man sozialisiert ist, wie man erzogen wurde, ob man körperlich gesund ist, etc. Schreckliche Erlebnisse können sich noch stärker auswirken, wenn sich die Betroffene sowieso in einer Krisensituation befindet. So können die Folgen von Schlafstörungen, Ängsten, psychosomatischen Erkrankungen, Albträumen, Beeinträchtigungen des eigenen Sexuallebens, bis hin zu Verlust des Jobs reichen – um nur einige zu nennen.

Was muss Ihrer Meinung nach geschehen um einen Wandel im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs zu bewirken und die Stigmatisierung betroffener Frauen und Mädchen zu beenden?

Fr. Kussyk: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene! Die Anerkennung, dass es vielleicht nicht so wichtig ist, dass sich Männer und Frauen „ergänzen“ und dass man sich nur in dieser Dichotomie sicher fühlt. Eine Gesellschaft zu kreieren, in der es um Menschen geht. Veränderung geschieht zuerst in jeder Person selbst. Eine Reformation des Sexualunterrichts wäre auch wichtig. Momentan ist dieser sehr negativ. Es geht um Verhütung, Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten, vielleicht auch vor sexueller Gewalt. All diese Dinge sind natürlich wichtig, keine Frage. Aber dadurch entsteht ein vollkommen angstbesetztes Bild von Sexualität und Lust. Man lernt nicht, wie man schließlich dazu kommt, was einem Lust bereitet. Wenn man sich dafür entscheidet ist es natürlich auch wichtig, dass dies bereits im Kindesalter thematisiert wird. Das wird aber leider derzeit noch nicht angenommen, wobei es schon tolle Unterrichtsmaterialen geben würde, wie zum Beispiel vom Verein Selbstlaut.

Glauben Sie, dass sich dadurch auch die Fälle sexualisierter Gewalt verringern könnten?

Fr. Kussyk: Das hoffe ich schon. Da bin ich Idealistin. Es wird natürlich nie alles perfekt und wunderbar sein, aber wenn wir uns vor Augen führen, was sich von Generation zu Generation bereits geändert hat, dann liegt ein Umdenken in diesem Sinn durchaus im Bereich des Möglichen.

 

Frau Ursula Kussyk ist diplomierte Sozialarbeiterin und seit 1991 im Verein Notruf tätig. Das Interview wurde geführt von Heidi Stitz und Melanie Zimmerer vom Verein Footprint.

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Studie des ÖIF